Jugendstil
Sie war angekommen. Stellte den gehetzten Motor aus, lehnte sich zurück und spürte den Kontakt zwischen Hinterkopf und Kopfstütze. Die Anspannung der schnellen Fahrt auf der Autobahn entwich dem Körper beim Ausatmen, wie ein, mit dem Windhauch weiterziehendes, flatterndes Stück transparenter Stoff.
Es dämmerte. Sie erkannte die Jugendstilvilla hinter der Burg aus der Beschreibung im Internet. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass es sich um ein Mehrparteienhaus handeln könnte. Ihr Wagen stand auf einem Privatparkplatz, zwischen weiteren zum Haus gehörenden Autos.
Neugier und Ängstlichkeit vor dem Unbekannten mischten sich. Sie kannte weder die fremde Stadt, die angepriesene Unterkunft, noch ihren Gastgeber.
Sicher hätte sie ein Hotel gegoogelt, wäre ihr Mann nicht so begeistert gewesen von diesem Anbieter für günstige Übernachtungsmöglichkeiten. Das von ihr ausgesuchte Hotel in den Bergen mit Wellnessbereich, Frühstücksbuffet und drei Gänge Menü kostete ihn einen zu stolzen Preis. Nur ein Wochenende, zwei Übernachtungen und meine Frau, die Ilsebill, ...
Die von ihr entfachte Gedankenstichelei unter Eheleuten galt es zu unterbinden.
So sah sie sich die Luftmatratzenübernachtungsmöglichkeiten einmal an.
Hausboot in Amsterdam, Landstilhäuschen in England, Ranch in Australien mit Pool.
Aber hier ging es ja nur um ein Wochenende, in einer 2-3 Stunden entfernten Stadt.
Tiefparterre mit Gartenblick in Jugendstilvilla- vielversprechend.
Sich beim Anbieter anzumelden- schwerer als erwartet. Sie verbrachte den ganzen Nachmittag damit Anforderungen zu erfüllen. Der facebook-Account schien dem Anbieter nicht aktuell genug. Das dazugehörige Foto lud er sich jedoch gleich auf seine Seite. Der Provider erhob Anspruch auf die Kreditkartennummer und verlangte eine beglaubigte Personalausweiskopie. Als sie auch noch ein 15 Sekunden langes Video, bei dem sie ein Lied singen und auf der Straßenlinie einen Flic-Flac springen, ins Netz stellen sollte (wie die Szene der Polizeikontrolle, in Steve Martins Film:" Der Mann mit den zwei Gehirnen"), stieg sie aus. Ein flaues Gefühl in der Magengrube und „Big brother is watching you“ im Gedächtnis. Existenzängste. Georg Orwells Geschichte 1984 nahm kein gutes Ende und war längst in der Gegenwart angekommen.
Ade, du kleine, heile Welt.
Sie stellte den Kontakt zum Privatvermieter her. Konnte zwar nicht buchen, schrieb ihm aber, sich gerne für das Wochenende einmieten zu wollen. Leider wäre es nicht möglich durch die Security zu kommen.
Kein Problem, es könne auch in bar bezahlt werden, kam salopp zurück.
Ohne den potentiellen Vermieter zu kennen, hatte sie e-mail Kontakt hergestellt.
Sie schrieb leicht, locker, ihre Tochter würde 18 werden und sie als Eltern müssten für das Wochenende das Haus verlassen. Aus Anreden wie „Hi“ und „Huhu“ wurde sogleich „du“. Wenn sie schon nicht durch die offizielle Sicherheitsmaßnahme rutschte, wollte sie die Reservierung verbindlich wirken lassen. Vielleicht fremd dieser Computerwelt gegenüber aber sonst ehrlich-naiv.
Die Buchung inklusive Reinigungskosten kam nun doch teurer, als das von ihr angestrebte Wellnesshotel am See. Wenngleich ihr Mann Einwand der hohen Übernachtungskosten wegen erhob fuhren sie zusammen in eine beiden fremde Stadt und er stellte den gehetzten Motor aus.
Gemeinsam stiegen sie die Treppenstufen zur Eingangstür hinauf und suchten das Namensschild mit zugehöriger Klingel. Er läutete. Jemand öffnete.
Äußere Erscheinung und Namastegeste ließen auf einen Inder schließen. Anfang dreißig. In Jeans und olivgrünem T-Shirt, bat er das erschöpfte Paar einzutreten.
Im Treppenhaus stand ein Rennrad an die Wand gelehnt. Es fiel ihm angenehm auf, er fuhr auch Rad.
Die drei traten über einen kleinen Vorraum in die großzügige Küche. Ein Arbeitsblock in der Mitte. Dahinter ein Tisch besetzt mit einem Mann und zwei Frauen, grade etwas älter als ihre Tochter.
Zwei weitere Stühle wurden herangezogen. Ein weiß, grün gestreiftes Louis Quatorze Sesselchen zum Platznehmen, über den dunkelroten Perserteppich gehoben, für sie.
Zeit, ihren Blick schweifen zu lassen:
Indirektes Licht, rauchgeschwängerte Luft. In einer spindeldürren, meterhohen Yuccapalme steckten Räucherstäbchen. Daneben eine halb in die Wand integrierte graue Säule. Fenster bis zur Altbaudecke, gerahmt von ebenso hohen Heizkörpern, deren Regulatoren für sie nicht zu erreichen wären. Bestenfalls unter höchstmöglicher Streckung, auf einem Stuhl stehend, ging es ihr durch den Kopf.
Dunkler Parkettboden auf dem eine rotorange, fein geknüpfte, mit dunkelblauen Quadraten versehene, persische Brücke lag. Diese führte zum weinrot, wieder ornamental gehaltenen, größeren Teppich. Auf ihm, der antik, barocke Tisch mit seinen, leicht nach außen geschwungenen Beinen.
Die einst mit Schellack überzogenen, abgewetzte Tischplatte bedeckt mit allerlei Gläsern, Orangensaft, Wodka, Tabak und einem vollen Aschenbecher. Stilleben der Jugend.
Die junge Frau ihr gegenüber schüchtern, gerötete Wangen. Einige hellbraune, fast rötliche Locken entkamen dem gewundenen Koten ihrer Haare und umsäumten das ovale Gesicht.
Wie sanft dieses Mädchen schien, zurückhaltend. Rossettis Proserpina.

Der Gastgeber gab dem Mädchen einen väterlichen Kuss auf die Stirn.
Wie irritierend.
Sie wurden gefragt, ob sie gerne rauchen würden? Wohlig drehte sich ihr Mann eine Zigarette. Wie lange hatte er schon nicht mehr in einer Wohnung geraucht!
Ob sie Rotwein aus Italien trinken wollten, als einladende Frage gestellt. Der behände Gastgeber stellte einen zarten Kristallkelch vor sie und schenkte ein. Wie aufmerksam.
So ließ es sich entspannen.
Ihr Mann nahm mit einem einfachen Colaglas, Edition "Riesenfastfoodkette", vorlieb.
Sein Stuhl, instabil bei Bewegung, die Verleimung löste sich, sah bequemer aus, als er war.
Er blickte sich um:
Aus den Bluetoothboxen drang eine experimentelle Mischung aus Oberton und Walgesängen. Es handelte sich wohl um die Musik eines esoterischen youtube channel, wie auf dem Bildschirm des Macbooks zu erkennen war.
Was für ein exzentrischer popart Druck, im Stile Andy Warhols. Ein blonder Frauenkopf, seitlich gesehen in Comicart bunt gedruckt. Aus dem Mund schlängelte sich eine Zunge. Frech, obszön und mitten über der Küche angebracht.
Zu seiner Linken sonnenüberflutete, griechische Landschaftsbilder, in Öl. Große Leinwände mit hübschen Farben. Er mochte das satte, seine Nuancen wechselnde Blau des Himmels, des Wassers, selbst der Fensterläden. Weiße Häuser, ab und zu eine Kuppel. So friedlich.
Es klingelte an der Haustür. Der Gastgeber jonglierte einen Karton Riesenpizza an den Tisch.
Perfekte Konditionierung, er war hungrig und bekam das erste Stück angeboten.
Cool! Dieses bunte Gemisch aus Popart, naiver Malerei und tausend und einer Nacht gefiel ihm. Was für lockere Konventionen.
Sein Leben kam ihm eintönig, fast spießig vor.
Wie er brav von Montag bis Freitag in die Arbeit ging. Abends auf der Couch saß, fern sah.
Seine Frau erzählte gerade über den Grund ihres Wochenendausfluges. Sturmfrei für die Tochter, die ihren 18ten Geburtstag gebührend feiern wollte.
Wie enthusiastisch die jungen Leute sich an der Unterhaltung beteiligten. Feurig berichteten sie von ihren Erfahrungen mit Festen im Haus der Eltern. Wie nah ihnen dieses Alter war.
Wehmütig dachte er an die Leichtigkeit seiner eigenen Jugend.
Der Gastgeber lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Er stellte sich vor: Nilay oder Nili, wie sie wollten; fragte ihn nach seinem Job und beide tauschten kurz ihre beruflichen Tätigkeiten aus.
Dann wandte Nilay sich an sie. Ob sie Erfahrung in esoterischer Richtung hätte, spirituelle Sitzungen, Tarotkarten legen? Obwohl sie lachend verneinte, dazu sei sie zu bodenständig, fühlte sie sich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt. Er fragte weiter, ob sie sich die Übernachtungsräume ansehen wollten? Die beiden stimmten der kleinen Führung zu.
Im Wohnraum führte eine steile Wendeltreppe in die Souterrainzimmer. Die Matratze vor der Tür diene als Schalldämmung, der Stereoanlage wegen, falls sie oben noch feiern wollten. Heute würden sie einen bekannten Club, deren Besitzer Nilay kenne, besuchen.
Das Ehepaar lehnte die Clubeinladung dankend ab, sie hätten am nächsten Tag ja vor, sich die Stadt anzusehen. Nahmen die Einladung, die Rotweinflasche zu leeren und sich in den oberen Räumen zu entspannen jedoch beschwingt an.
Hektische Unruhe entstand, das Taxi stehe vor der Tür. Nilay verschwand in den hinteren Räumen, tauchte gleich wieder in einem weißen Hemd auf, suchte seine Jacke. Die falsche wurde ihm gereicht. Proserpina tauschte die Jacken, reichte ihm seine Schuhe. Mit einem Ciao, fühlt euch wohl, wurde es still und das Paar saß allein, in der fremden Wohnung am Esstisch.
„Lässig, uns hier so vertrauensvoll sitzen zu lassen,“ startete er die Konversation.
„Wie eingefahren wir doch in unser kleines quadratisches Leben sind. Sie dir diese bunt schillernde Welt hier an.“
„Lebt nicht jeder in seinem Quadrat?", schoss es ihr durch den Kopf. Hingegen erwiderte sie:"Stimmt, komm lass` uns den Garten ansehen.“
Er öffnete die hohe Fenstertür und sie traten auf eine weite, konkav gewölbte Terrasse.
Vor ihnen erschloss sich die Steinbalustrade und eine Treppe führte in den dunklen Garten. Am Treppenansatz, auf dem Handlauf, saßen rechts und links kleine, schlafende Dämonen.
Sie freuten sich wie Kinder, die in eine Märchenwelt eingedrungen waren.
Sie würden in dieser zauberhaften, alten Jugendstilvilla übernachten.

Leblos, die langen dunklen Haare verbargen das, mit dem Kinn auf dem Brustbein liegende Gesicht. Der Schaft eines Dolches ragte aus ihrem Bauch, als würde er den Körper an den stehenden Holzsarg nageln. Sie wusste, es war ihre Mutter. Der Sargdeckel kappte wie eine Tür zu.
Ein Wimmern in ihrem Traum. Das kleine Mädchen kauerte neben einer offenen Treppe. Es hatte keinen Sinn sich zu verstecken. Sie hörte seine zunehmend unkontrolliert, herrische Stimme.
Wieder dieses kindliche Wimmern: “Ich kann nicht, ich kann das nicht.“
Sie wusste, in seinem Wahn verlangte er irgend eine Absurdität.
Sie hatte Angst vor ihm.
Weibliches Wehklagen. War sie das? Sie war das kleine Mädchen, sie wimmerte nicht, sie weinte nicht. Sie war in Habachtstellung. Ein Zittern durchlief den zum Sprung gespannten Körper. Mit diesem, durch den Leib rieselnden Zittern, öffneten Millionen winzig kleiner Augen ihre Lider. Jede Körperpore ein Augenlid. Und jedes dieser kleinen Äuglein konnte hören. Sie konnte durch Mauern hören.Ihre Ohren schutzlos geräuschempfindlich, an der Schmerzgrenze.
Sie wachte auf. Der Nachtmahr raste noch durch ihr Blut.
Die Stimmen?
Die Stimmen waren da! Meine Güte, sie hatte das befehlende Geschrei des Mannes und das Weinen der Frau über ihr, in ihren Traum eingebaut.
Sie orientierte sich, lag im Doppelbett des Souterrainzimmers an der Innenseite. Ihr Mann schlief außen. Schwer über ihn zu springen oder zu krabbeln. Ein Moment aus Handlungsunfähigkeit und Ohnmacht ließen zähe Sekunden in eine zeitlose Dimension tropfen.
Ihr Gastgeber und seine Freundin in einem, von ihm dominierten, Streitgespräch. Wenn man das heisere Schreien und weinende Klagen noch Gespräch nennen konnte.
Sie weckte ihn. Er wachte auf. Es war ruhig. Er schlief ein. Sie wachte lauschend. Stille!
Aufmerksame Wachsamkeit begleitete ihren Tag.
Teleskoptentakel, Schwanenhälsen gleich, mit um sich blickenden Augäpfeln wuchsen wendig aus ihrem Körper. Kreisten als Satelliten in ihrer Atmosphäre, behielten die Stratosphäre im Auge.
Sie passierten die intakte, massive Burgmauer. Betrachteten die restaurierte Festung von innen. Waffen aus unterschiedlichen Epochen zur Verteidigung ausgestellt. Düsternis. Zu Fuß bergab, eroberten sie den Altstadtkern. Touristengruppen unterschiedlicher Nationalitäten und Größen mischten sich mit den zielorientierten Kunden der Geschäfte, in der Fußgängerzone. Laut, lebendig, ihr Verteidigungssystem in Alarmbereitschaft. Die Welt rauschte auf sie zu, drohte sie zu überrollen. Immer wieder kehrte sie zu dem Ereignis der Nacht zurück. Versuchte ihr Bild zu vervollständigen. Das junge Mädchen, das den Abend über scheu Fragen beantwortete. Ihre bescheiden wirkende Art auf einmal devote gefärbt. Er, in seiner Überaufmerksamkeit, nicht zuhören könnend, hektisch, getrieben. Wie sie ihm diese Jacke reichte! Wer spielte welche Rolle? Was bedeutete die aufgestellte Matratze vor der Kellertür? Vielleicht die provisorische Dämmung einer Folterkammer? Für wen, sie unten oder die oben?
Hypothesen aus wilden Fantasien und Erinnerungsstücken durchwirkten das entstehende und immer wieder auseinanderfallende Bild. Sie puzzelte.
Ihr Mann sah sie an. Sein Blick perlte, wie ein Wassertropfen, auf einer im Teich schwimmenden Lotospflanze, ab. Er wollte ihre Abwesenheit nicht länger ertragen. Mitten im Menschenstrom blieb er stehen und stellte seine durchdringende Frage, die es schaffte sie aus ihrer Trance zu reißen:
„Wo bist du, was ist los mit dir?“
Jetzt sah sie ihn an, brauchte Zeit. Sie gingen eine Weile weiter, durch abgeschiedene Straßen und Gassen, um die flüchtige Essenz in ihrem Gehirn zu filtern:
„Du musst mir glauben, du musst dich hinter mich stellen. Ich habe einen häuslichen Übergriff miterlebt und wir müssen das klären. Für mich hat sich heute Nacht schon einiges geklärt. Meine Vergangenheit hat sich in die Gegenwart gemischt. Gefährlich! Ich habe eine mir bekannte, zugewiesene Rolle heute Nacht nicht erfüllt. Normalerweise habe oder sollte ich jetzt sagen hatte ich, in solch brissanten Situationen, die Gabe mich in das unsterbliche Supergirl zu verwandeln. Retterin der Unterdrückten. Mein Supergirlanzug ist zu eng geworden, ich bin zu groß. Meine Heldin in der Not ist nun doch gestorben und hat mich mit meiner kindlichen Furcht und Ohnmacht allein gelassen."
Er glaubte ihr.
So trat Bewusstsein in ihre Erfahrung und eine klärende Erkenntnis blieb.

Sie war angekommen.

Kommentieren



coracora, Freitag, 14. November 2014, 18:56
Spannend geschildert diese Wanderung zwischen den Welten.
Spannend Vermischung von Traum, Trauma, Vergangenheit
Spannende krimihafte Gegenwart.
Spannend ob und wie sich Supergirl und ihr Mann einmischen werden und ob etwas daraus entsteht
Spannend wenn man sich mit dem Unangehmlichkeiten auseinander setzt und nicht weghört und schaut.
Hinhört, zuhört
aber das ist ja - nicht nur heute - eine besondere Spezialität von Dir

lalol, Sonntag, 16. November 2014, 19:21
ohhh...danke...

Supergirl ist menschlich geworden.
Den passenden Anzügen aus dem Versand fehlt die Magie.

Es bleibt dem Leser frei, sich den Ausgang der Geschichte zu gestalten.

lalol, Montag, 24. November 2014, 12:18
Wer kann da widerstehen?
Seit diesem Beitrag bin ich eingeladen, beim kostenlosen Wahrsagerinnen- Chat mitzumachen.

dhonau, Sonntag, 18. Januar 2015, 00:18
bärenstark

lalol, Sonntag, 18. Januar 2015, 17:41
Schön, Sie im Hintergrund zu wissen.