Mittwoch, 8. Mai 2013
Wer will schon nach Meran?
oder die ganze Geschichte
aus Sicht eines Mitverschwörers am Fuße der Spanischen Treppe

Es begab sich zu einer Zeit, in der es hieß: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Diese Genugtuung wollte und konnte sie ihm nicht gönnen. Diese Erniedrigung, diese Schmach. Nicht nur, dass sie stundenlang im „Streetcafe“, dem vereinbarten Treffpunkt, vergeblich auf ihn warten musste, nein, es kam noch schlimmer, auch wenn es zunächst gar nicht danach aussah. Denn welch Überraschung, er schickte ihr zu ihrem 17ten Geburtstag, ein Telegramm.
Das Erste und Letzte in ihrem Leben.
Und da sie noch nie ein Telegramm von einem Boten überreicht bekam, freute sie sich erst mal.
Wusste sie nicht, dass Telegramme nichts Gutes bedeuten können?
„Alles-Liebe-mio-amore-bin-in-Meran“
Ein Scherz? Ungläubigkeit breitete sich aus und schwängerte den Nachmittag. Bald wurde aus Ungläubigkeit Enttäuschung, aus Enttäuschung Wut. Verletzlichkeit in all ihren Facetten.
„Okay mio amore, du kannst mich mal!“
All ihre Gefühle schrieen nach Rache. Die Beziehung schlicht zu beenden? Außer Frage, viel zu banal. Es musste etwas Anderes sein , etwas Besonderes, etwas Verrücktes. Irgendetwas, was ihr verletztes Ego wieder ins Lot bringen würde.
„Und wenn wir einfach auch wegfahren würden,“ schlug ein Freund vor. Er hatte zufälligerweise ab dem übernächsten Tag, vier Tage frei. Ein weiterer Freund wollte sich dem Trip gerne anschließen. Diese Idee gefiel ihr. Blieb nur noch die Frage, ob ihre Mutter damit einverstanden wäre und vor allem, wohin die Reise gehen sollte.
Die Erlaubnis bereitete wohl keine größeren Probleme, obwohl die Mutter den Freund nicht einmal kannte. Denn wenige Stunden nach aufkeimen des Plans gab es schon eine klare Ansage: Sie darf, und egal wohin Hauptsache weiter als Meran!
Was läge näher, als die Himmelsrichtung beizubehalten. Verona? Florenz? Oder gar Rom?
Das war es: Rom. Die ewige Stadt. Ja, sie könnte die entzündete Wunde der Eitelkeit reinigen, den anwachsenden Lavastrom zum Erlöschen bringen. Die Würfel waren gefallen.
Abfahrt Ostersonntag, kurz vor Mitternacht, Treffpunkt bei ihr. Ihr Auftrag, ein paar Häppchen vorzubereiten und vor allem eine Thermoskanne Kaffee bereitzuhalten, um den Erfolg der langen Fahrt zu gewährleisten.
Der Kaffee sollte stark sein. Er wurde ölig und schwarz, wie die Nacht.
Dann ging es los. Lauthals wurden „Frösche an die Wand“ gegrölt(eine andere Geschichte) und als sie nicht mehr konnten, eine Kassette von Elton John und Billy Joel eingeschoben, welche die nächsten Tage den Rekorder nicht mehr verlassen sollte.
Eine schnellere, hektischere und aufgekratztere Fahrt hatte der kleine giftgrüne Renault 4 noch nicht mitgemacht. Tapfer, in Begleitung von Rocket Man, Billy the Kid und Pianoman, überquerte er die Alpen und erreichte kurz nach Morgengrauen das Ortsschild von Meran. Von nun an waren die drei Freunde auf der Gewinnerstraße, was zunächst mit einem Freudenschrei und einige Kilometer weiter mit einem Frühstück gefeiert werden sollte.
Es wurden Sandwiches, ein Nusskuchen in Form eines Osterlamms und die Thermoskanne mit dem noch unberührten Kaffee ausgepackt. Sie hätten die Kanne besser nicht geöffnet, denn deren Inhalt war nicht nur ölig und schwarz wie die Nacht, sondern auch unübertrefflich scheußlich.
All ihren Mut zusammennehmend, leerten die zwei sich abwechselnden Fahrer aus wachbleibtechnischen Gründen ihre Tassen, nicht jedoch ohne dabei die Gesichter zu verziehen. Unverzüglich begannen die Hände zu zittern und der Schweiß sich auf der Stirn auszubreiten. Das Mädchen ließ man in dem Glauben, dass der Kaffee genau richtig, nämlich sehr stark sei.
Später gestanden ihr die Freunde, sie hätten den Sud in der Vorstadt Roms weggeschüttet und seien sich nicht sicher, ob die begossene Pflanze die Vergiftung überlebt hätte( wie Nachforschungen ergaben hatte die ungeübte Kaffeekocherin eine ganze Packung Espressopulver auf diese eine Kanne verwendet).
Mit zitterndem Leibe und mehreren Gramm reinem Koffein im Blut, ging die Fahrt Richtung Apeninen weiter.
Es war ein sonniger, milder Ostermontag und so war die Überraschung groß, als plötzlich Hunderte von Skitouristen die Straße säumten. In all dem Gewimmel ging es nur noch langsam voran und die Benzinuhr zeigte unmissverständlich, dass ein baldiger Tankstopp unvermeidbar war.
Feiertag im erzkatholischen Italien. Kein leichter Plan und die wenig offenen Stationen weigerten sich, die Adal-Tankgutscheine anzunehmen. So verflüssigte sich bis auf eine Handvoll Lire das Verpflegungsbudget und verschwand in der Tanköffnung. Doch es konnte weitergehen und als der Abend anbrach, waren sie wenige Kilometer vor Rom.
Sie übernachteten irgendwo am Strand und am Morgen verspeisen sie die letzten Reste des süßen kleinen Lamms. Ohne Kaffee, weil Kanne leer wie... !
Dann war es soweit. Frühling in Rom. Ein wunderbarer Tag (so schön wie der mit Andrey Hepurn in „Ein Herz und eine Krone''). Angefangen von der Autofahrt durch die Innenstadt, einem Cappuccino in der Bar, dem zugehörigem R-Gespräch (entfernter Seniore tedesco di Monaco, Sie haben einen Anruf aus Rom, Sie übernehmen die Kosten), etwas später die peinliche Szene, in der einer der Freunde es sich nicht verkneifen konnte Mundraub zu begehen, indem er von den Auslagen eines Obstladens drei Orangen heimlich in seiner Tasche verschwinden ließ, bis zum Pflichtbesuch des Colosseums in der Nachmittagssonne.
Kolosseum
Davon gibt es ein Selbstauslöserbild, manchmal kann ein Beweis nicht schaden.
Anschließend konnte es unsere Heldin nicht lassen, einen Selbstversuch zu unternehmen.
Sie hatte gehört, in Rom könne man trotz des quirligen Verkehrs, unbeirrt über die Straße gehen. Nur wählte sie keine Straße, sondern einen sechsspurige "Strada del morte" unweit des Peterplatzes.
Sie hatte recht, und ohne auch nur einen Blick nach links oder rechts zu verschwenden, kam sie auf der anderen Seite an. Es wurde nicht einmal gehupt.
Nach einer kleinen Runde auf dem heiligen Platz und ungläubigen Blicken auf die bunt, gefiederten Ballonhosen der Schweizer Garde, ging das Trio zu Fuß Richtung Spanischer Treppe. Nicht weit davon fanden sie einen kleinen Park, die Gitarre wurde ausgepackt und die saftigen Orangen verspeist. Es war ein spärliches, spätes Mittagessen. Der Unterzucker wurde zwar unterdrückt, aber jetzt kam der Hunger und die Frage der Nahrungsaufnahme wurde von Minute zu Minute dringlicher, es musste etwas passieren.

Zurück zur Spanischen Treppe, der Gitarrenspieler würde als Straßenmusikant seine selbstverfassten Texte trällern, das Mädchen seinen „Charlie-Hut“ abnehmen und damit an die Passanten treten.
Immer noch kann sie die weichen Knie, das Zittern der Hände und die nicht von der Sonne kommende Rötung im Gesicht empfinden. Wie ein flüchtiger, sofort bekannter Geruch, der die Nasenflügel weitet und über die feinen Flimmerhaare Vergangenes neu in die Gegenwart wirft.
Die Menschenmenge um die Spanische Treppe wuchs an. Der Hut war fast bis zur Krempe gefüllt, als ein Carabinieri sich lässig aus der Menge löste, dem Mädchen grinsend den Hut aus den Händen nahm und den Inhalt in seine Taschen schüttete.
Die drei Freunde scheuchte er wie lästige Fliegen von der Treppe.
Wie ungerecht, von diesem armselig, ausgekochten Maccaroni-Sheriff, anderen Menschen ihre mutig erbettelten Brotkrumen zu stehlen und dabei auch noch Kunst in den Schmutz zu treten.

Außer paar weniger Münzen, die noch in irgendwelchen Hosentaschen wohnten, hatten sie alles Geld verloren.
Die Spende
Der Abend brach an und man sehnte sich immer mehr nach etwas zu Essen, aber auch nach einer Gelegenheit, sich den Großstadtschweiß, der in allen Ritzen klebte abzuwaschen.
Es folgte eine Odysee durch die Vororte Roms, Zielobjekt Campingplatz. In der Hoffnung dort unbemerkt eine Dusche nehmen zu können.
Sie hatten Glück, es ergab sich sogar noch die Möglichkeit, in der Campingbar einen kleinen Espresso zu trinken und ihr wirklich letztes Geld, in einem kleinen Lädchen gegen ein kleines Brot zu tauschen. Zurück am kleinen R4, der nahe am Campingplatz parkte, grinste der eine Freund selbstzufrieden und legte protzig ein paar Essenssachen und eine Flasche Wein auf das Autodach. „Was, du auch!“ entrüstete sich das Mädchen lächelnd, öffnete ihren arg ausgebeulten Trenchcoat und präsentierte ihrerseits die Beute. Nur der Dritte hatte nichts, wohl nicht mal die Idee oder auch nicht den Mut. Doch das war nicht weiter schlimm. Ausgelassen füllten sie ihre leeren Bäuche.
Nun hatten sie wieder Kraft, sich auf die letzte, der auf der Liste stehenden offenen Aufgabe zu konzentrieren: Das Projekt “ Senso-Unico.“
Ein italienisches Einbahnstraßenschild sollte unbedingt als Souvenir mit nach München.
„So eine weite Fahrt, in so einem alten Auto, und dann gerade mal einen Hammer, eine Beiss- und eine Kombizange dabei ? Das darfs doch wohl nicht geben“ bemerkte ungläubig der potentielle Schilderdieb. Doch selbst mit dieser unprofessionellen Ausrüstung dauerte es nur wenige Minuten, bis das Opfer seinen Widerstand aufgab und ehrenvoll im Kofferraum verschwand.

Jetzt schnell weg.
Kurz darauf fanden sie einen Ort, der ihnen geeignet erschien die Nacht zu verbringen. Sie kauerten sich auf die Autositze und versanken im gerechten, unbequemen Schlaf.
Den brauchten sie auch, denn am nächsten Tag, stand die Heimreise an.
Als sie spätnachts endlich in München ankamen, fühlten sie sich völlig erschöpft, aber großartig.
Die „Senso-Unico“ Trophäe im Gepäck, die gekränkte Eitelkeit geheilt, der wütende Lavastrom gestoppt und die Erinnerung an eine Italienreise die ihnen immer bleiben würde.
Ciao Roma.
Wer will schon nach Meran?

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